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AutorenbildEl Faro Verlag Licht und Wahrheit

Leseprobe: Die Perlenprinzessin


Wienke Ursula Schulenburg - Mi Amor

ISBN: 978-3942721004


Es regnete in Strömen an diesem Donnerstag im November, als Carlotta traurig und ein wenig missmutig in ihren gelben Gummistiefeln, die ihr aufgrund der zu kurzen Socken immer Blasen an den Waden rieben, durch den Regen von der Schule nach Hause stapfte. Der Ranzen wog sichtbar schwer auf ihren Schultern und ließ sie gebückt gehen, als trüge sie schon die Last eines ganzen gelebten Lebens mit sich herum. Einer Greisin gleich, obwohl sie doch erst am Anfang ihres Lebens stand.


Sie hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, damit ihre Haare nicht nass wurden und sie sich erkälten würde. Das hatte ihr Mutti wieder und wieder gesagt, wenn sie mit pitschnassen Haaren zu Hause angekommen war und alles trocken geföhnt werden musste und sie einen Rüffel und Schokoladenverbot für den Rest des Tages bekam.


Am Rand der Kapuze ihres kleinen Regenmäntelchens hingen die Tropfen und ab und zu, wenn sie den Kopf ein wenig anhob, löste sich einer und tropfte ihr ins Gesicht und lief ihre zarten, blassen Wangen hinab. Und wenn das Wasser nicht so süß geschmeckt hätte, man hätte meinen können, es sei eine Träne, die langsam an ihrem Gesicht herunter lief und von dem versteckten Schmerz ihrer Seele berichtete.


Eine Traurigkeit, die sich schon so tief in ihr sensibles Herz gefressen hatte, dass es ganzer Meere an Tränen bedurft hätte, um ihr Ausdruck zu verleihen.


Eigentlich liebte sie den Regen, die vielen Pfützen, um die sie herum balancieren konnte, die dicken Tropfen, die lustig hoch spritzten und die warme Tasse Kakao, die ihr ihre Mutter bereitete, wenn sie durchgefroren nach dem Spielen zu Hause ankam und sich aufwärmte.


Doch heute war sie bedrückt und konnte ihr kleines Herz nicht öffnen, nicht für den Regen, nicht für die Pfützen und nicht für sich selbst. Sie war unendlich traurig und wer sie sah, diese kleine, verlorene Gestalt, die wie entwurzelt durch ihr Leben lief, dem zog es unwillkürlich das Herz zusammen.


Doch schien sie keiner in ihrer Traurigkeit und Einsamkeit wahrzunehmen oder sehen zu wollen.


Und so war es vielleicht einzig und allein der liebe Gott, der durch den Vorhang aus Regen zur Erde hernieder sah und dort seinen kleinen Schützling entdeckte, der noch lange nicht am Ende seiner Qualen angekommen war und noch einen weiten Weg würde gehen müssen, bevor er in die Freiheit und Selbstbestimmung würde entlassen werden.


So war es vielleicht ein Zufall oder nicht, dass eine alte Frau kurz zuvor an dieser Stelle ihr verknittertes Taschentuch aus der Manteltasche gezogen hatte, um sich zu schnäuzen und dabei eine Münze mit aus der Tasche zog, die platschend in eine der vielen Pfützen fiel, was im allgemeinen Regenprasseln allerdings unterging.


Da lag sie nun, die kleine, golden scheinende Münze, nach der sich nur der bückt, der in ihr einen Wert erkennt und es in Kauf nimmt, sich dafür die Finger schmutzig zu machen und wartete auf ihren neuen Besitzer, der auch schon in Form der kleinen Carlotta heran gestapft kam.


Eine kleine Münze!“, rief Carlotta leise, als sie das Geldstück vor sich liegen sah, was sie sicherlich übersehen hätte, wenn sie aufrecht gelaufen wäre, „eine Münze!“


Sie bückte sich, fischte sie aus der Pfütze heraus und trocknete sie liebevoll mit dem Ärmel ihres Pullovers, den sie aus ihrer Regenjacke hervor zerrte.


Plötzlich war der graue Novembertag ein klein wenig freundlicher und das trübe Einerlei in ihrem Herzen weniger und sie begann zu überlegen, was sie sich Schönes von diesem Stück Geld würde kaufen können. Ein paar Süßigkeiten beim Kaufmann, oder ein paar Bilder zum Einkleben in ihr Album? Oder sollte sie es sparen, wie es ihr ihre Mutter immer wieder geraten hatte, um sich irgendwann etwas ganz Großes zu leisten?


Nein, beschloss sie, nein, ich werde mir jetzt etwas kaufen, etwas Wunderschönes, etwas, was nur mir gehört und ganz, ganz lange hält und mein Geheimnis sein wird!


Nur was?


So lief sie weiter und dachte nach, als sie plötzlich vor einem der Geschäfte einen dieser kleinen Automaten sah, wo man für etwas Geld Kaugummi bekam, einen Flummi oder ein anderes kleines Spielzeug. Sie blieb stehen und wandte sich dem Automaten zu, der sich direkt auf ihrer Augenhöhe befand. Und ganz außen an dem kleinen Fenster, der einen Einblick in die Schatzkammer des Automaten gewährte, entdeckte sie etwas, was ihr kleines Herz schneller schlagen ließ:


Ein Prinzessinnenring mit einer zart perlmutt scheinenden Perle!


Fasziniert konnte sie den Blick nicht abwenden, liebte sie doch das verzaubernde Schillern der Perlen, die, je nachdem wie man sie drehte, ihre Farbe ein wenig veränderten und so geheimnisvoll waren. Und wuchsen sie nicht, wie man ihr erzählt hatte, in einer Muschel irgendwo in den Weiten der Meere heran und waren etwas so Seltenes und Wertvolles, dass das Meer nur wenige der Muscheln mit diesem Geschenk glücklich machte?


Sie dachte an die kleinen Meerjungfrauen aus dem dicken Märchenbuch, das sie so sehr liebte, die sich mit diesen Perlen schmückten. Und die Perlen, so besagte es die Geschichte, waren die Tränen all der Frauen, die ihre Männer und ihre Liebe an das Meer verloren hatten und die nun als Perlen im Inneren der Muscheln wie in einem Schatzkästchen gehütet wurden.


Sie konnte ihren Blick nicht mehr von diesem Ring abwenden, der dort mitten zwischen dem anderen Spielzeug im Automaten geduldig auf seine neue Trägerin wartet. Und wenn nun ein Flummi statt diesem Ring heraus kommt?, fragte sie sich plötzlich erschrocken? Was, wenn ich etwas ganz anderes bekomme und nicht diesen Ring?


Wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte keine Lösung finden. Die Verkäuferin konnte sie nicht fragen, die war immer so schlecht gelaunt, das wusste sie schon. Den Automaten schütteln, so dass der Ring bis nach unten fiel auch nicht, dass hatte ihr Freund, der Benjamin einmal gemacht, als er unbedingt den gelben Flummi haben wollte und dem dabei fast der Automat umgefallen wäre.


Sie seufzte ein wenig und dann, wie aus einem inneren Impuls, steckte sie plötzlich die kleine Münze in den Schlitz, schloss die Augen, drehte an dem Knopf und… sie vermochte ihre Augen nicht zu öffnen vor Aufregung und Anspannung. Vorsichtig tasteten ihre Finger nach der Klappe, hinter der das Geschenk liegen würde. Hatte es nicht leise „klick“ gemacht? Ein Flummi würde doch nicht so ein Geräusch machen, oder doch?


Sie hob die kleine Klappe an, griff hinein und, tatsächlich, es war ein Ring! Sie konnte ihr Glück kaum fassen und traute sich endlich, ihre Augen zu öffnen und siehe da, es war auch noch ein Perlenring, einer wie der, der am Plastikfenster des Automaten gelegen hatte! Sie wollte gerade nachschauen, ob es auch wirklich „ihr“ Ring war, als sie schon ungeduldig zur Seite geschoben wurde.


„He da, mach Platz, hier wollen auch noch andere an den Automaten!“, hörte sie die ruppige Stimme eines älteren Jungen. Unsanft wurde sie zur Seite geschoben und stand nun wieder mitten im strömenden Regen, allerdings mit dem schönsten und kostbarsten Ring der Welt!


Glücklich hüpfte sie durch die Pfützen, so dass es um sie herum nur so spritzte und so mancher eine kleine Pfützendusche von ihr bekam und sich griesgrämig nach ihr umdrehte. Doch ihr war es egal. Glücklich lief sie nach Hause, wo bereits ungeduldig ihre Mutter auf sie wartete.


Kind, wo hast du so lange gesteckt?“, waren die ersten Worte, die ihr aus der geöffneten Tür entgegen kamen und dahinter das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter, die jetzt noch sorgenvoller als sonst aussah und ihre Stirn in Falten legte, wie diese Hunde, die mit ihren Falten aussahen, als wären sie verschrumpelte, alte Äpfel. „Sieh dich an, ganz nass bist du geworden und habe ich dir nicht gesagt, du sollst dir die Kapuze aufsetzen wenn es regnet?“


Ach ja, die Kapuze, die war bei all ihrer Freude in den Nacken gerutscht und ihr Haar war ganz nass geworden. Sie liebte doch den Regen in ihrem Gesicht.


„Komm ins Bad, dass ich dir die Haare trocknen kann, du holst dir ja noch den Tod!“

Brav trottete Carlotta ihr hinterher und setzte sich auf den Hocker im Bad vor den Spiegel.


Versonnen drehte sie an dem Ring an ihrem Finger, während ihre Mutter den Fön holte.


Ein echter Meerjungfrauenring!


Was hast du denn da?“, fragte ihre Mutter, als sie den Ring an der Hand ihrer Tochter bemerkte.


„Sag bloß, du hast wieder Geld für so einen Tand ausgegeben!“


„Ich habe das Geld gefunden, ehrlich Mutti, es lag auf der Straße!“


„Auf der Straße? So so…“


„Doch, es lag wirklich auf der Straße!“


„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du solche Dinge trägst, Carlotta, das habe ich dir doch schon so oft erklärt. Du bist ein kleines Mädchen und ich möchte nicht, dass du dich wie eine Frau heraus putzt, das weißt du doch!“


Die Stimme ihrer Mutter klang irgendwie müde und doch streng und es lag etwas in ihr, was Carlotta einen Schauder über den Rücken fahren ließ. Es bedurfte keiner weiteren erklärenden und mahnenden Worte ihrer Mutter, denn die Kälte in der Stimme ihrer Mutter war bereits in ihr kleines Herz gekrochen und hatte sie an den Winter ihres Inneren erinnert, jene Kälte, die viel zu früh dort Einzug gehalten und den blühenden Garten ihrer Seele im klirrenden Frost hatte erstarren und erfrieren lassen.

Stumm zog sie den Ring von ihrem Finger und steckte ihn wortlos in die Tasche.

So ist es gut, meine kleine Maus“, sagte die Mutter mit tonloser Stimmen, „so ist es gut.“


In aller Eile flocht sie ihr das Haar, das Carlotta immer in einem artigen Zopf trug, denn offene Haare, die ihr beim Spielen wild ins Gesicht flogen, billigte sie nicht. Und jedes Mal, wenn die Strähnen sich doch irgendwie gelöst hatten, rief sie Carlotta sie zu sich, um die kleine Mähne zu bändigen. Vielleicht etwas zu hart, vielleicht etwas zu streng und doch wusste Carlotta, dass es eben nicht anders ging und irgendein Geheimnis und böser Fluch mit ihren offen wehenden Haaren verbunden war, etwas, was so furchtbar war, dass sie es nicht zu denken, geschweige denn zu fühlen wagte.


Carlotta saß in ihrem Zimmer und spielte, so wie sie es immer tat, wenn sie nach dem Abendbrot im Pyjama noch eine Weile aufbleiben durfte. Es war dunkel draußen und nur ein paar kleine Lichter erhellten ihr Zimmer. Bald würde Weihnachten sein. Sie liebte dieses kuschelige Gefühl in ihrem Zimmer und es kam ihr vor, als schwimme sie in einem Meer, wie ihre kleinen Seejungfrauen, die durch die unendlichen Ozeane schwammen und die Tränen der verlassenen Frauen am Strand einsammelten, um sie in den Muscheln zu verwahren.


Sie hatte sich ihr Badehandtuch über den Kopf und die Arme gelegt und lief in ihrem Zimmer hin und her und ruderte mit den Armen als wären es große Flossen, mit denen sie durch das Wasser schwebte. Sie hatte ihr Haar geöffnet, Mutti würde es ihr vor dem Schlafengehen wieder für die Nacht flechten, damit es nicht so verwirre und verklette, wie sie sagte. Sie liebte ihr feines, seidiges Haar, das fast golden glänzte, wie das der kleinen Weihnachtsengel am Christbaum.


Leise summte sie vor sich hin, ein Lied, das nur sie kannte und schwamm mit ihren Freundinnen, den kleinen Meerjungfrauen und Nixen um die Wette, um Neptun, ihrem Vater, von den gefundenen Schätzen zu berichten. Und heute hatte sie wahrlich von einem Schatz zu berichten, den sie stolz an ihrem Finger trug und der schöner war als alle Perlen, die er je zu Gesicht bekommen hatte!


So war sie ganz versunken in ihrem Spiel und hörte nicht, wie sich leisen Schrittes jemand ihrem Zimmer genähert und die Tür geöffnet hatte.


Ah, da bist du ja, meine kleine Prinzessin!“, hörte sie wie aus dem Nichts die Stimme ihres Vaters. Erschrocken hielt sie inne. „Und wie du dich heraus geputzt hast, komm her, lass dich anschauen!


Plötzlich war es wieder Winter in ihr, das Meer gefror und sie war unfähig, sich zu bewegen.

Tanz doch ein wenig für mich, kleine Prinzessin, das bist du doch, oder? Tanz für mich, kleine Nymphe!


Ihr kleines Herz konnte sich gar nicht so schnell verschließen, als dass nichts von der Kälte dieses Menschen hätte eindringen können. Und wie ihre kleine Aufziehmaus, die so lustige Kreise zog, wenn man sie an dem kleinen Bändchen aufgezogen hatte, so tanzte sie jetzt kleine Kreise und drehte sich um sich selbst.


So ist es recht, meine Kleine“, hörte sie die Stimme des Mannes, der doch ihr Vater war, „und nun summ doch wieder dein schönes Lied."


Doch sie konnte den Mund nicht öffnen.


Da sieh mal einer an. Zeig her, meine kleine Prinzessin, was hast du denn da an dem Finger? Meine kleine Prinzessin wird langsam zu einer großen Prinzessin, was? Lass sehen!


Er griff nach ihrer Hand und musterte sie von oben bis unten, nachdem er sich vor sie hingekniet hatte.

Sie sah ihn aus ihren großen, runden Augen an. Augen, die so kindlich gar nicht waren, hatten sie doch schon Dinge gesehen, die Kinderaugen nie hätten sehen dürfen, um nicht ihre Unbekümmertheit zu verlieren.


Er liebte das Ernsthafte an ihr und oft fragte er sich, wie eine so kleine Persönlichkeit wie sie schon so reif und erwachsenen sein konnte.


Erwachsener als so mancher Erwachsener.


Er drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund, einen von der Sorte, den sie so hasste, weil er feucht und glitschig war und so ekelhaft roch.

Komm her, meine Süße, setz dich auf Papas Bein. Ja, so ist es recht und jetzt zeig mir doch noch mal deinen Ring. Hm, der ist wirklich schön, weiß denn Mama auch davon? Nein, weiß sie nicht? Doch? Ist es dein Geheimnis, was? Siehst du, und jetzt ist es auch meins, jetzt haben wir noch ein Geheimnis mehr. Weißt du, meine kleine Prinzessin“,


fuhr er fort und seine Stimme wurde so komisch, dass ihr noch mehr Angst und Bange wurde,


weißt du, du hast auch eine kleine Perle, die versteckt in einer Muschel lebt, da unten, du weißt schon und wenn du willst, dann zeige ich dir, wo sie wohnt, das wäre doch schön, oder?


Sie verstand seine Worte nicht und wusste doch, was sie zu bedeuten hatten, nämlich dass sie furchtbar würde weinen müssen.

Weinen, wie all die Frauen am Strand, die ihre Liebe an das Meer verloren hatten und die in ihrer Untröstlichkeit bittere Tränen weinten.


Tränen, die das Meer hinfort spülte, wo sie zu Perlen werden würden. Und dann, ja dann kämen die Meerjungfrauen, dachte sie noch, während sie nur noch wie im Traum die Hand ihres Vaters an ihrem Körper spürte.


Es würde so sein wie in dem dicken Buch mit den schönen Geschichten, dann kämen all die Nixen und Meerjungfrauen, die die Tränen und Perlen der Meere finden würden, sie aufsammeln und sie sicher bewahren, bis sie irgendwann erlöst werden würden von ihrem Schicksal, eine Perle zu sein.


Eine Perle, die in ihrer Schönheit und schillernden Silbrigkeit von einer Seele berichtet, die in ihrer traurigsten Stunde ihren Glanz verlor, an den die kleine Perle nur noch erinnern kann.

So versucht jeder von uns auf seine Art seinem ganz persönlichen Grauen für eine Zeit zu entkommen und sei es auch nur in der Welt der Phantasie, die uns gnädig aufnimmt und uns Asyl gewährt, wenn wir es in unserem Leben nicht mehr aushalten. Hoffen wir, dass Carlotta eines Tages die Kraft finden wird, zurück zu gehen zu dem, was ihre Realität und Wahrheit ist, so schmerzlich diese auch sein mag.

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